Symbolphoto Exkursion
 
 
 
Auf den Spuren Marc Chagalls oder:
Licht- und Schattenseiten Weißrusslands

Impressionen zur Exkursion
nach Vitebsk und Minsk vom 21. bis 29. Mai 2010

Leitung:
PD Dr. Sabine Koller und Prof. Dr. Walter Koschmal (Institut für Slavistik)
Prof. Dr. Hans-Christoph Dittscheid (Institut für Kunstgeschichte)

TeilnehmerInnen:
Annelie Bachmaier, Tatjana Fuchs, Marta Galickaja, Elena Gerweck, Diane Mehlich, Iwona Moosauer, Jana Neumann, Ludmila Pashkevitch, Christian Schmidt, Witalij Schmidt, Barbara Standke, Tetyana Yakovleva.

Viele Bilder, aber auch Texte Marc Chagalls sind eine Liebeserklärung an seine Heimatstadt Vitebsk. In seinem Gedicht „Di shtot di vayte“ – übersetzen lässt sich dies als „die weit entfernte Stadt“ oder aber als „die weitläufige Stadt“ – benützt der Maler ein interessantes Sprachbild: Die Stadt erklingt in ihm. Vitebsk, seine zweite Muse außer Bella, bringt eine Seite in ihm zum Schwingen, die ihn schweben lässt. Sehen können wir dies auf zahlreichen seiner Bilder.
Genau dieses Gefühl der Leichtigkeit und des Schwebens empfanden wir Teilnehmer an der Exkursion in Marc Chagalls Geburtsstadt. Mit vielen Bildern Marc Chagalls im Kopf kamen wir am 21. Mai 2010 in Vitebsk an. Um viele Stadtansichten und Eindrücke bereichert, reisten wir nach vier Tagen weiter nach Minsk. Hier landeten wir nach unseren Vitebsker Höhenflügen auf dem harten Boden der weißrussischen Realität eines autokratisch geführten Staates.

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Vitebsk – Heimatstadt Chagalls und Laboratorium der Avantgarde

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Vitebsk ein künstlerischer und kultureller Knotenpunkt. Zwischen 1917 bis 1922 zog die Stadt trotz Bürgerkrieg und Hunger wie ein Magnet führende Künstler der russisch-jüdischen Avantgarde an. Als „Vitebsk-Renaissance“ („Vitebskij renesans“ ) geht diese Zeit in die Geschichte der Kunst ein.
Ohne Marc Chagall wäre es wohl nie dazu gekommen. Der junge Künstler entschließt sich 1918, den Posten als „Bevollmächtiger des Kunstkollegiums im Gouvernement Vitebsk“ (upolnomočennyj Kollegii po delam iskusstv v Vitebskoj gubernii) anzunehmen. Er eröffnet dort die Künstlerische Volkslehranstalt (narodnoe chudozestvennoe učilišče). Seinem Ruf zur Mitarbeit folgen u. a. Mstislav Dobužinskij, Jurij Pėn, Vera Ermolaeva, Dovid Jakerson, dessen Frau Elena Kabiščer-Jakerson und nicht zuletzt so herausragende Figuren wie Ėl Lisickij und Kazimir Malevič, der Chagall schließlich verdrängen wird.
Zu verschieden sind Chagall und Malevič in ihren künstlerischen Ansichten, zu groß sind die persönlichen Differenzen. Was Chagall mit dem (utopischen) Ideal beginnt, aus allen Menschen Künstler zu machen, führt Malevič mit einem elitären, der gegenstandslosen Darstellung ergebenen engeren Kreis von Schülern und Schülerinnen von 1920 bis 1922 fort. Die sozialistische Bürokratie und künstlerische Vereinnahmung macht schließlich Chagalls Idee von der ‚Kunst für alle‘ und Malevičs Künstlervereinigung Unovis (Abkürzung vor „utverditeli novogo iskusstva“/Bekräftiger der neuen Kunst) ein Ende.

Vitebsk, im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört, versucht man nach und nach sein früheres Gesicht wiederzugeben. Kirchen, die man von Chagalls Bildern kennt, werden wieder aufgebaut. Teile der Synagoge, in der Chagalls Vater betete (und der kleine Chagall sehnsuchtsvoll aus dem Fenster blickte), stehen noch. Die Aura der Ruine ist groß – und, im Unterschied zu anderen Städten Weißrusslands, noch Teil der Topographie der einst multikulturellen und multikonfessionellen Stadt. Vor ihren Überresten erzählt uns Arkadij Šulman, Publizist, Fernsehjournalist und Herausgeber der jüdischen Zeitschrift Mishpocha (Familie), von den Geschicken der Vitebsker Juden.

Für die Instandsetzung der Synagoge, die während der Perestrojka zerstört wurde, fehlen bislang die Mittel. Doch an der Geschichte des Marc-Chagall-Museums sieht man, dass die Stadt Vitebsk ihr kulturelles Erbe bewahren will. Skulpturen zeitgenössischer Künstler erinnern an den weltberühmten Maler. Nach dem 1992 gegründeten Kunstzentrum Marc Chagall (Art-Centr Mark Šagal), in dem Chagalls graphische Arbeiten, aber auch zeitgenössische Kunst gezeigt werden, wird  anlässlich des 110. Geburtstages des Künstlers 1997 in der Pokrovskaja-Straße das zum Museum umfunktionierte Wohnhaus Marc Chagalls (muzej-kvartira Marka Šagala) eröffnet. Hier verbrachte der Künstler seine Kindheit. Dank der liebevollen und informativen Gestaltung lebt der Geist dieses großen Künstlers hier fort. Das hat sicher mit dem Zauber des Wohnhauses – im Garten blühen Chagalls Lieblingsblumen, die „veselki“ (Kornblumen) – und mit der herrlichen Lage das Kunst-Zentrums zu tun (der Blick über die Dvina ist unvergesslich). Das hat aber vor allem mit dem unermüdlichen Einsatz der Museumsleiterin Ljudmila Chmel’nickaja zu tun, mit ihrer Kompetenz und Begeisterung für die Sache. Marc Chagall ist bei ihr und ihren Mitarbeiterinnen in besten Händen.

Das dritte Gebäude im Bunde sollte eigentlich die Vitebsker Künstlerischen Volkslehranstalt sein. Bislang wissen nur Eingeweihte, dass hier die Protagonisten der russischen Avantgarde Chagall, Lisickij und Malevič wirkten. Ein Museum zur Vitebsker Avantgarde könnte dem Abhilfe schaffen. Doch wem das stark sanierungsbedürftige Gebäude übertragen wird, steht noch in den Sternen. Um die Nutzung der Lehranstalt als Zweigstelle des Marc-Chagall-Museums kämpft Ljudmila Chmel’nickaja bislang vergebens. Entscheiden wird der weißrussische Staat. Mit ihm zu ringen ist kein leichtes Unterfangen.

Chagalls Spurensuche führt in die Kunstsäle des Vitebsker landeskundlichen Regionalmuseum fort. Hier hängen großartige Bilder, vor allem Porträts, seines Lehrers Jurij (Jehuda) Pėn. Bei uns im Westen ist er eine fast unbekannte Figur. Es wird Zeit, dass das anders wird.

Einen krönenden Abschluss unseres Aufenthalts in Vitebsk beschert uns Arkadij Šulman. In weichem Abendlicht durchstreifen wir am letzten Abend mit ihm die Stadt, besonders die Gegend, in der Chagalls Wohnhaus steht. Wir blicken in Hinterhöfe und damit hinter die Fassaden der Stadt. Wir saugen die warmen Farbtöne der Ziegelhäuser in uns auf. Bevor wir unsere Reise nach Minsk fortsetzen, schenkt uns Vitebsk, die farbenfrohe, lebendige und jugendliche Stadt zum Abschied noch ein jüdisches Lächeln.

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Minsk – die Misere einer Metropole

Die Bemühungen des Vitebsker Chagall-Museums sind im Kontext der aktuellen Situation in Weißrussland zu sehen. Es nutzt innerhalb der ‚letzten Diktatur Europas‘ unter Lukaschenko einen kulturellen Freiraum, der andernorts vielleicht von staatlicher Lenkung und vereinheitlichtem Machtdiskurs erdrückt würde. Der enorme Gegensatz zwischen Vitebsk, einer wichtigen Stadt an der Peripherie Weißrusslands, und Minsk, der von Lukaschenko aufpolierten Hauptstadt, das im autokratischen Repräsentationszwang bis zur Absurdität glänzt, führt dies deutlich vor Augen.

Minsk, seit dem Mittelalter ein wichtiges Handelszentrum, war ursprünglich eine europäische Stadt, in vielem dem litauischen Vilnius ähnlich. Von der Altstadt, der Njamiha, benannt nach einem  Flüsschen, das durch Minsk fließt, ist nicht viel übrig geblieben. Ähnlich Vitebsk wird Minsk und mit ihm das gesamte jüdische Leben während des Zweiten Weltkrieges fast völlig zerstört. (Bereits im 19. Jahrhundert hat das Zarenreich das europäisch-barock-katholische Erbe zur Strafe für Aufstände gegen Russland getilgt.)

Der Wiederaufbau Minsks im Dienste der raschen Industrialisierung und Sowjetisierung macht aus der Stadt ein „Freilichtmuseum des sozialistischen Realismus“ (Thomas Bohn). Kilometerlange Prachtstraßen künden von der übermächtigen Sowjetmacht, die wie einst der Zar die spezifisch weißrussische Identität löscht. Daran knüpft der seit über 25 Jahren amtierende Präsident Lukaschenko an. Er beraubt ein ganzes Land seiner Identität – und seiner Kultur und Sprache. Lukaschenkos Weißrussland ohne Weißrussisches erscheint einem wie ein gewaltiger Anachronismus. Während Russland sich dem Kapitalismus zugewandt hat (und Weißrussland nach und nach aufkauft), erscheint Belarus als eine bizarre Mischung aus Sowjetischem und Nationalpatriotischem, das nur geduldet wird, wenn es Lukaschenkos Machtmythologie dient. Die sowjetisch geprägte Heroik der Hauptstadt wird um Luxusbauten Lukaschenkos ergänzt. Man spiegelt sich in modernen Bauten, wird damit selbst zum Abziehbild einer Stadt, die in diesen Spiegelungen ihr Gesicht verloren hat.

Die Leichtigkeit, die wir in Vitebsk spürten, ist geschluckt von der erdrückenden Last, Hauptstadt des Landes und Verwaltungssitz der GUS zu sein. Unser Ansinnen, auf Chagalls Spuren das künstlerische (jüdische) Erbe auch hier in Minsk aufzuspüren, hilft über die Entstellung Minsks hinweg. Dabei kann man scheitern (so geschehen bei einem Vortrag einer Professorin zur weißrussisch-jüdischen Kunst). Dabei kann man aber auch die richtigen Pfade durch die Stadt beschreiten. Im Museum der Geschichte und Kultur Weißrusslands entdecken wir einige Portraits von Chagalls Lehrer Jehuda Pen. Im Staatlichen Weißrussischen Kunstmuseum erhalten wir Führungen zur jüdischen Kunst, sehen Jehuda Pens berühmtes Chagall-Portrait und Werke anderer jüdischer Künstler im Original, entdecken wir die weißrussische Ikone. Wir erfahren aber auch, dass vieles im Archiv einer angemessenen Konservierung und Restaurierung harrt.

Wir lernen auch die Schattenseiten der „Sonnenstadt“ kennen, wie sie der weißrussische Künstler und Architekt Artur Klinaŭ in Anlehnung an Tommaso Campanella nennt. Sie machen Lukaschenkos Machtzentrum sympathisch. Ein Stadtarchivar und Spezialist für die Baugeschichte Minsks erzählt uns von den Bausünden der Stadt – und führt uns zu authentischer Bausubstanz, die von den architektonischen Grimassen der Ideologien unberührt blieb. Wir atmen auf: In Minsk gibt es nicht nur staatlich verordnete Linientreue, hier gibt es auch kritische Köpfe, innere Emigration, Dissidententum. Der Preis, der dafür gezahlt wird, ist leider hoch. (Manchmal kostet er ein Menschenleben, denkt man an die ermordeten Journalisten Veronika Tscherkassova oder Oleg Bebenin). Dennoch gibt es einen intellektuellen Underground in der Stadt. Minsk, die „Stadt der zugrunde gerichteten Genies“ (Kim Chadejev) – der jüdischstämmige Schauspieler Salomon Michoels kam hier 1948 bei einem Auto,unfall‘ ums Leben –, wartet auf seine Befreiung.

Sabine Koller

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