Studentische Perspektiven

Iwona Moosauer

Barbara Standke

Iwona Moosauer

Mein Tagebuch vom 21.05. bis 29.05.2010 in Weißrussland

 

Am 21. Mai fuhr ich in Gesellschaft dreier Dozenten: Prof. Dr. Hans-Christoph Dittscheid, Dr. Sabine Koller, Prof. Dr. Walter Koschmal und 14 Studenten der Universität Regensburg nach Weißrussland.

Ziel unserer Exkursion war es, das bisherige Wissen bzw. das Kennengelernte aus dem Seminar ,,Vitebsk: Avantgarde-Kulturen (Literatur, Malerei)“ zu vertiefen, zu vergleichen und Schlussfolgerungen aus dem Ganzen zu ziehen. Um sich besser mit dieser Thematik zu identifizieren, wollten wir die Heimat von Marc Chagall und anderen Künstlern kennen lernen. Daher kamen wir zu dem Entschluss, von Minsk zuerst nach Vitebsk zu fahren um dort unsere Exkursion zu beginnen.
In unserem Seminar erfuhren wir, dass das heute weißrussische Vitebsk etwa zwischen 1917 und 1922 bzw. bis in die dreißiger Jahre zum einen ein Ort der künstlerischen Avantgarde in Wort und Bild, zum anderen ein Ort kultureller Mischung war. Diese Aspekte standen laut dem kommentierten Vorlesungsverzeichnis im Mittelpunkt des interdisziplinären Seminars der (Ost-)Slavistik und Kunstgeschichte: „Zum einen geht es kunst- und kulturgeschichtlich um die (Wieder-)Entdeckung einer weitgehend verschütteten Avantgarde (z.B. Judovin), aber auch einer bekannten (M. Chagall, El Lisitzky, K. Malevič) in ihrem Ausgangskontext. Zum anderen sollen künstlerische und literarische Avantgardekonzeptionen, etwa des Suprematismus (K. Malevič) einander gegenübergestellt werden bzw. auf mögliche gemeinsame Wurzeln hin untersucht werden (z.B. in der Buchkunst; Graphik). Schließlich wird der ästhetische Ort der jüdischen Kunst (Yehuda Pen u.a.) und Literatur (An-ski) in diesem Gefüge analysiert. Russische und jüdische Avantgarde werden auf dem Hintergrund ihrer Traditionen untersucht (u.a. der Ikone). Die Rekonstruktion dieser ästhetischen Wechselbeziehungen kann zur Herstellung virtueller Ausstellungen (etwa jene von 1929) führen. Den Rahmen bilden Einführungen zu Stadtgeschichte und Kulturgeographie von Vitebsk und Minsk“.

Vor der Reise nahm ich mir vor, alle meine Gedanken und Gefühle vor Ort in ein kleines Tagebuch zu notieren.

21.5.2010, 23.42 Uhr
Die Reise war lang, aber wir genossen die günstige Witterung. Gegen Abend kamen wir wohlbehalten am Ort unserer Bestimmung, also in Vitebsk, an. Danach bezogen wir unsere Hotelzimmer, und ganz erschlagen begab ich mich ins Bett.

22.5.2010, 22.50 Uhr
Den heutigen ersten Tag verbrachten wir hauptsächlich im Kunst-Zentrum ,,Marc Chagall“. Dort hörten wir einen interessanten und ausführlichen Vortrag der Museumsleiterin Ludmila Chmel’nickaja über Marc Chagall und seine Kunst. Im Museum konnten wir 96 vor allem geschenkte Skizzen bewundern. Die ganze Ausstellung, die Führung und den Vortrag fand ich grandios. Den Nachmittag verbrachten wir mit dem Publizisten und Fernsehjournalisten Arkadij Šulman in der Stadt. Dank seiner lernten wir die Stadtgeschichte und Stadtgeographie kennen. Mit seinem weißrussischen Charme, seiner lustigen, aber sehr kompetenten Art führte er uns zum jüdischen Vitebsk. Zu jeder Gasse, jeder Kirche, jedem Denkmal hatte er eine kurze Geschichte parat. Durch die Besichtigung und das Erzählen hat diese Stadt für mich viel an Reiz und Anmut gewonnen. Man findet hier alles, was die Kultur und Kunst an schönen Abwechslungen zu bieten hat.

23.5.2010, 23.56 Uhr
Um 6.30 Uhr war ich schon wach, ich konnte nicht schlafen. Meine Aufregung war zu groß; auf diesen besonderen Tag freute ich mich, sehnte mich so sehr danach. Um 10.30 Uhr waren wir vor dem Haus Chagalls. Endlich konnte ich sehen, wo er lebte, was ihn inspirierte und bewegte. Es war eine phantastische Erfahrung, die wir an diesem Morgen erleben konnten. Hinter dem Haus erstreckte sich der grüne Garten mit einem Pferdefuhrwerk; die ganze Gegend gleicht einem bunten Gemälde. Am Nachmittag machte uns Frau Chmel’nickaja mit  Chagalls Wirken als Leiter der Vitebsker „Künstlerischen Volkslehranstalt“ vertraut. Danach besuchten wir mit ihr diese ehemalige Kunstlehranstalt.
Abends sammelten wir unsere Eindrücke und diskutierten über das, was wir bis jetzt erfahren hatten. Alle waren so begeistert, dass wir bis spät in die Nacht zusammen saßen.

24.05.2010, 23.30Uhr
An einem sehr angenehmen Morgen hörten wir den dritten und letzten Vortrag von Frau Chmelnickaja zu Leben und Wirken anderer jüdischer Künstler hier in Vitebsk. Im Anschluss hatten wir ein Treffen mit Arkadij Šulman. Heute führte er uns in die jüdische Zeitung ,,Mishpocha“ und jüdische Kunst ein. Durch seine Herkunft war das Gespräch sehr authentisch; persönlich könne er ein bisschen jiddisch, sagte er bescheiden. Eben seine Bescheidenheit, Authentizität und seine emotionales Erzählen begeisterten uns immer wieder. Ich hatte so ein Gefühl, dass ich ihm ewig zuhören könnte.
Nachmittags kam die weißrussische Presse ins Museum, die mit uns ein kurzes Interview machte. Abends gingen wir noch einmal mit dem sympathischen und hilfsbereiten Herrn Šulman in das ehemalige jüdische Viertel. Dort konnten wir zum letzten Mal die Architektur Vitebsks bewundern.

25.5.2010, 23.10 Uhr
Um 7.40 Uhr fuhren wir per Bahn von Vitebsk nach Minsk, um 12.16 Uhr kamen wir dann dort an. Nach kurzer Pause machten wir eine Stadtrundfahrt und besuchten die interessantesten Plätze der Stadt. Spät abends kamen wir ins Hotel zurück.

26.5.2010, 22.58 Uhr
Heute hörten wir einen Vortrag von Larisa Davidovna Finkelstein über weißrussische und jüdische Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Danach machten wir eine Exkursion nach Smiloviči in der Nähe von Minsk, dort schauten wir  uns den Geburtsort von Chagalls Malerkollegen Chaïm Soutine an.

27.5.2010, 23.40 Uhr
Um 10 Uhr fuhren wir alle ins Staatliche Kunstmuseum. Im Museum hatten wir eine Führung und anschließend einen hervorragenden Vortrag zu Judovin und Jehuda Pen. Zur Krönung des Tages schauten wir uns eine Operette an, sie war entzückend und lustig. Die Meinungen waren sehr verschieden.

28.5.2010, 23.15 Uhr
Am heutigen Tag durften wir uns manche Termine selbst aussuchen, so entschied ich mich mit einigen Studentinnen für das Staatliche Kunstmuseum. Uns begeisterten die Ikonen und Malerei Pens, daher entschieden wir uns für eine genauere Besichtigung. Die Ikonen waren so faszinierend, dass wir uns spontan entschlossen, mit unserem Kunstdozenten, Herrn Dittscheid, und einer Studentin Gemälde selbst zu beschreiben und interpretieren. Danach folgte der zweite Teil des Vortrages über Judovin und Jehuda Pen. Am Nachmittag besichtigten wir noch die Stadt und um 15 Uhr hatte ein Teil der Gruppe eine Begegnung mit Herrn Klees, der als Leiter des DAAD-Informationszentrums in Minsk tätig ist.

29.5.2010, 22.10 Uhr
Um 13 Uhr fuhren wir nach Regensburg zurück. Müde aber sehr glücklich, um neue Erfahrungen reicher, verabschieden wir uns in Regensburg.

Resümee
Durch die Exkursion haben wir einen praktischen Zugang zur weißrussischen und jüdischen Kunst erlangt. Natürlich lernten wir auch Land und Leute, Mentalität und Kultur besser kennen. Wenn ich mich an Weißrussland zurück erinnere, denke ich an die Natur, an die grünen Wälder und Wiesen, die sich überall ausbreiten. Für mich persönlich betrachte ich die Reise als eine große Bereicherung für mein berufliches Leben. Alle Leute, die ich kennenlernen durfte, haben mich sehr beeindruckt. Die Denkweise und ihr Engagement sollten ein Beispiel für uns junge Leute sein. 

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Iwona Moosauer

Barbara Standke

 

Barbara Standke

In dem interdisziplinären Hauptseminar „Vitebsk: Avantgarde-Kulturen“, das das Institut für Slavistik und das Institut für Kunstgeschichte zusammenbrachte, wurden Themenbereiche der jüdische Kunst und Kultur sowie der jüdischen Literatur im heutigen Weißrussland untersucht. Den Höhepunkt des Seminars stellte eine zehntägige Reise nach Weißrussland Ende Mai 2010 dar. Der Aufenthalt in Vitebsk und Minsk hat sehr deutlich gemacht, wie wichtig unbegrenzte Wissenschaft sowie freies und kritisches Denken sind.
Zur Exkursion ist eine Ausstellung in Regensburg in Vorbereitung, die im Frühjahr 2011 alle Interessierten dazu einlädt, mehr über Weißrussland zu erfahren.

WEISS-RUSSLAND

Weißrussland: Wie kommt es zu der Farbe Weiß im Ländernamen? Man kann sich der Antwort nähern, indem man Leute in seinem privaten Umfeld fragt, wo denn Weißrussland überhaupt liegt. Da kommen Antworten wie: „Naja, so im Osten“, „Das ist doch ein kleiner Teil von Russland“, „Ach, da war doch mein Sohn und ihm hat die Hauptstadt Kiew sehr gut gefallen.“ Das Nichtwissen färbt das Land in die Nichtfarbe Weiß.

Weiß man nicht noch weniger über Weißrussland als über Russland? Also wäre für die Namensgebung von Seiten Westeuropa ein „Weiß-Nicht-Russland“ angebrachter? Wie kommt es eigentlich zu der Unkenntnis über dieses Land in einer Gesellschaft, die über unbegrenztes Wissen verfügt?
Geographisch wird von den Weißrussen gerne behauptet, dass ihr Land im Herzen Europas liegt. Dieses Herz schlägt jedoch in einem russischen Rhythmus und somit nicht im Gleichtakt mit Westeuropa.
Deutschland ist nach Russland Weißrusslands wichtigster Handelspartner. Aber ist umgekehrt Weißrussland für Deutschland von Bedeutung? Wirtschaftlich kaum und so stellt das Land für den größten Teil der deutschen Bevölkerung ein Vakuum dar, das von Russland umschlossen zu sein scheint.
Weißrussland scheint allgemein in einem undurchdringbaren Nebel zu liegen, der von Russland   aus über das Land zieht und ihm seine charakteristischen Züge nimmt. Weißrussland selbst fällt es schwer, diesen Nebel zu lüften und sein eigenes Gesicht zu zeigen. Diesem fehlt es vordergründig an eigenen Mythen, Legenden und letztendlich auch an der eigenen Sprache, um es von anderen Gesichtern unterscheidbar zu machen.
Mit der Machtergreifung Lukaschenkos wurde Weißrussland eine neue Maske gewaltsam aufgesetzt. Dieses Gesicht wendet sich von Westeuropa ab und dafür umso stärker Russland zu. Lukaschenko verspricht die Sicherheit und Stabilität, die dem Land nach dem Untergang des Sozialismus verloren gegangen ist.
Wie ist es als Westeuropäer möglich Zugang zu diesem Land zu finden, das durch seine Regierung eine stark ausgeprägte antiwestliche Politik vertritt? Das Institut für Slavistik und das Institut für Kunstgeschichte der Universität Regensburg gehen den Weg über den jüdischen Künstler Marc Chagall, der in Vitebsk, der drittgrößten Stadt Weißrusslands, seine Heimat hat.

Grüne Juden, rote Kühe und grauer Asphalt

Im Hauptseminar „Vitebsk: Avantgarde- Kulturen“, das in Kooperation des  Instituts für Slavistik und des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Regensburg stattfand, wurde kultur-, literatur- und kunstgeschichtliches Wissen durch Frau Dr. Koller, Herr Prof. Dr. Koschmal und Herr Prof. Dr. Dittscheid über die russische Avantgarde, die um 1920 in Vitebsk ihren Ausgangspunkt hatte, vermittelt. Dank einer zehntägigen Exkursion nach Minsk und Vitebsk, hatten wir die Möglichkeit, dieses Wissen auch vor Ort zu vertiefen.
Der Weg führt uns nach der Ankunft am Flughafen in Minsk zuerst nach Vitebsk, die Geburtsstadt des weltberühmten Künstlers Chagall. Die Landschaft verwandelt sich schon während der Zugfahrt dorthin in die Bildersprache Marc Chagalls. Zwar sehen wir keine fliegenden Ziegen und Kühe, aber unsere Phantasie bekommt durch die optischen Anreize der wunderschönen Landschaft Flügel. Wir durchwandern die Vitebsker Straßen mit leichten Schritten und werden aufmerksam beobachtet. Man merkt den Einwohnern an, dass sie keine Erfahrung mit ausländischen Touristen haben, die noch dazu eine nichtslavische Sprache sprechen.
Einerseits ist sich in Vitebsk wohl jeder bewusst, welche Rolle Chagall und seine Künstlerkollegen spielen. Doch der einzige Ort, an dem dieses Wissen gefördert wird, ist das Chagall-Museum. Hier  hören wir Vorträge über diese große Künstlerpersönlichkeit, aber auch über das jüdische Vitebsk, das zu Chagalls Zeit existiert hat und über sein familiäres sowie künstlerisches Umfeld. Wir bekommen dort auch Kontakt zu einem jüdischen Journalisten, der uns eine sehr aufschlussreiche Stadtführung durch das einstige jüdische Stadtviertel gibt, in dem Chagall gewohnt hat. Das Wohnhaus Chagalls ist heute ein Museum und macht im Gegensatz zu Chagalls Kunstschule, die er 1918 gründete, einen sehr gepflegten Eindruck. Die Kunstschule ist über Jahre das künstlerische Zentrum der russischen Avantgarde gewesen.
Keine Geringeren als Malewitsch und El Lissitzky wirkten neben anderen wichtigen russischen Künstlern und natürlich Chagall in ihren Hallen. Sie inspirierten und kritisierten sich gegenseitig. Der Hauch dieses Ortes, der Vitebsk künstlerisch erfüllte, haftet nur noch an einem Blechschild, der mit traurigen verwaschenen Buchstaben leise und kaum wahrnehmbar an diesen Ort erinnert. Hier klingt eine Passage aus Chagalls Autobiographie schon fast prophetisch, in der er schreibt: „Es soll mich nicht überraschen, wenn meine Stadt nach einiger Zeit meine Spuren austilgt und sich nicht mehr an den erinnert, der seine eigenen Pinsel im Stich ließ, der sich quälte, litt und sich mühte, die Kunst hier heimisch zu machen, und der davon träumte, die Allerweltshäuser in Museen und die gewöhnlichen Einwohner in Künstler zu verwandeln.“
Die Kunst Chagalls nährt sich aus den Erinnerungen an Vitebsk, doch worin besteht die Nahrung der weißrussischen Kultur, wenn nicht aus Orten wie diesem? Ein paar Straßen weiter standen wir vor einer weitaus größeren Ruine. Mutig erhebt sich die Fassade der Synagoge, die zu Zeiten Chagalls ein Ort religiösen Lebens war, gen Himmel. Das Dach, das ihr den letzten Schutz gegeben hat, wurde vor zehn Jahren entfernt, um als Material für die Errichtung einer Baufirma zu dienen. Das Innere der Synagoge ist angefüllt mit Müll und ein Hund, der sich vor einigen Jahren in diese Ruine verirrte, fand in ihr seine letzte Ruhestätte.
Weiß man, dass Synagogen in Deutschland unter anderem ein Ort der Aufarbeitung der Verbrechen Nazideutschlands an den Juden darstellen, darf man sich fragen, wie weit Weißrussland mit der Geschichtsaufarbeitung ist. Hat es überhaupt damit begonnen? Gerade hier sind Chagall und seine jüdischen Künstlerkollegen als ein Schlüssel zu verstehen, um in Weißrussland das immer noch heikle Thema Antisemitismus anzusprechen. Jedoch werden von Weißrussland aus gewollt Türen zu diesem Wissen versperrt.

Der blendende Glanz Weißrusslands

Eine Begegnung, der man als Westeuropäer freudig entgegentrat, war das Treffen mit weißrussischen Studenten. Es stellte sich heraus, dass die angekündigte Studentengruppe die Fassade aufrecht erhalten sollte, die seit Lukaschenko das Land umgibt. Die Fassade besteht aus zwei Philologie-Studenten, die aus einer Werbung für eine Eliteuniversität entsprungen sein könnten und einem Professor, durch den das Gespräch recht offiziell verläuft. Beide Studenten, bei denen sich herausstellt, dass sie keine mehr sind, sondern wissenschaftliche Mitarbeiter der dortigen Germanistik, sprechen perfekt Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch und Japanisch. Ein Sprachglanz, der Weißrussland international erstrahlen lässt. Aber erstrahlt es national, sprechen die Studenten weißrussisch? Nein, das nicht. Politisch nicht korrekt.
Unter Lukaschenko herrscht eine Kontroverse über die Rolle der weißrussischen Sprache. Sie gilt als offizielle Sprache, jedoch wird sie nur von einem geringen Teil (11-36%) der Bevölkerung gesprochen. Weißrussisch gilt als provinziell und im Zuge der Urbanisierung und Industrialisierung gab man dem Russischen den Vorzug. So sprechen in Städten nur noch 1,5 % der Bevölkerung Weißrussisch. Die Russifizierung wird ebenfalls durch den administrativen Druck Moskaus beschleunigt. Als einzige der fünfzehn Sowjetrepubliken verlor Belarus seine nationale Sprache und somit auch große Teile seiner nationalen Identität und Kultur.
In Weißrussland finden sich vielerorts Propagandaplakate, die das Aufblühen Weißrusslands verkünden und den Nationalstolz Weißrusslands untermauern. Absurderweise ist dies auf Russisch zu lesen. Weißrussisch gilt als die Sprache der Oppositionellen, die durch diese Sprache ihre entgegengesetzte politische Auffassung zum Ausdruck bringen. Dass diese Leute in der Öffentlichkeit keine Plattform bekommen, um ihr Anliegen zum Ausdruck zu bringen, ist unter dem autoritären Regime Lukaschenko klar. Fernsehen und Rundfunk werden in Gänze von Lukaschenko gelenkt, Printmedien zu achtzig Prozent. Bewusst wird es uns in der Hauptstadt Minsk, in der von allen Seiten öffentliche Medien auf uns einwirkten.
Mit Vitebsk im Herzen, verfolgen wir dort weiter die Spur der russischen Avantgarde. Unsere Schritte wurden auf dem anonymen, grauen Asphalt in Minsk schwerer, und die Phantasie wird durch die sozialistischen Bauten eingeengt. Lukaschenko poliert Minsk, dessen Sauberkeit uns beinahe geblendet hätte. Die Innenstadt ist belebt durch junge Menschen, und nur wer etwas genauer hinschaut, sieht in Unterführungen und in U-Bahnschächten alte Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt erbetteln. Der hohe Wert, die die junge Generation dem Materialismus einräumt, wird nachvollziehbar, in Anbetracht der Gefahr der Altersarmut. Es gibt keinen Anspruch auf Rente und so haben die jungen Weißrussen täglich vor Augen, was sie im Alter erwarten kann.
Etwas außerhalb des Stadtzentrums beginnt die Fassade von Minsk schnell zu bröckeln. In den Vororten reiht sich Plattenbau an Plattenbau, der seit ihrer Entstehungszeit in den fünfziger Jahren keine Renovierungsarbeiten erfahren haben und dem Leben der dortigen Bevölkerung ein tristes Äußeres gibt. In einem dieser Vororte liegt das kunstpädagogische Institut, an dem wir unseren nächsten Vortrag hören. Die Wände des Instituts sind geschmückt mit Zeichenstudien, die seit dem Sozialismus nicht mehr abgenommen wurden und immer noch das Ideal des Sozialistischen Realismus aufweisen. Das ganze Institut wirkt schon von außen, als wäre dort die Zeit vor 40 Jahren stehen geblieben. Dass die Wissenschaft, die den Innenraum mit Leben anfüllen könnte, im ersten Aufglimmen eine Haube aufgesetzt bekommt, wird in dem anschließenden Vortrag ersichtlich. In diesem wird in einer Präsentation rasant über die jüdischen Künstler, von denen wir dank unseres Hauptseminars ein gutes Vorwissen haben, gesprochen. Die Veranstaltung hat den Charakter eines Filmes, so schnell werden die Bilder gezeigt. Man behält fast nur noch eine Verwischung im Gedächtnis. Auf konkretes Nachfragen bezüglich eines Künstlers, wird gesagt, dass es keine Quellen zu ihm gibt. Auf die Frage, in welchem Museum denn ein bestimmtes Bild aus der Präsentation hängt, wird geantwortet, dass die Abbildung aus dem Internet stammt. Die Kunstprofessorin, die den Vortrag hält, ist selbst Jüdin. Doch fehlt ihr – einem wenig nachahmenswerten Produkt des weißrussischen Bildungssystems – jegliche pädagogische Eignung, Inhalte über jüdische Kunst zu vermitteln. Doch will man das überhaupt?
Das Wissen wird minimal gehalten. Denn im Wissen steckt eine Gefahr, die die Regierung Lukaschenkos zum Umsturz bringen kann. Über die jüdischen Künstler in Weißrussland gibt es Quellen, jedoch werden sie klein gehalten, weil das Volk nur das wissen soll, was für die Regierung von Vorteil ist. Die Gefahr, dass ein größerer Teil der Bevölkerung anfängt kritisch zu denken, wäre zu groß.
Ein anderes Wissenszentrum, das wir besuchen, ist das Nationalmuseum in Minsk. Hier hören wir ebenfalls Vorträge, die zum Teil unsere Erwartungen positiv übersteigen. Das Museum beherbergt auch Bilder derjenigen jüdischen Künstler, mit denen wir uns intensiv beschäftigt haben. Einer davon ist Chagalls Lehrer Jurij Pen. Ihre Werke hängen etwas in einer Ecke gedrängt, doch übertrifft die malerische Qualität dieser Abteilung bei weitem die der Künstler, die noch ausgestellt sind.

Hinter der Fassade

Am letzten Abend unserer Exkursion gelingt uns ein Blick hinter die Fassade Weißrusslands durch einen Architekten, der uns eine persönliche Stadtführung gibt. Durch ihn erfahren wir von den Bausünden in Minsk, die uns selbst schon während unseres ganzen Aufenthaltes aufgefallen waren. Für Weißrussland ist bis heute Denkmalschutz ein Fremdwort, und so werden alte Häuser abgerissen und neue Häuser, die auf billige Weise den Alten nachempfunden werden, gebaut. Weißrussland untergräbt in jeder Hinsicht seine eigene Geschichte, und eine neue, vom Machtdenken Lukaschenkos angeleitete Geschichte wird aufgesetzt.
Unterstützt nicht ganz Westeuropa die Politik Lukaschenkos, wenn es Weißrussland nicht mit seiner vielschichtigen Kultur wahrnimmt und das Land leichtfertig mit Russland gleichsetzt? Das Institut für Slavistik und das Institut für Kunstgeschichte in Regensburg wollen dem etwas entgegensetzen. Sie wollen das Wissen über Weißrussland in Ausstellungen, Radioberichten und Zeitungsartikeln vermitteln und hoffen dadurch viele Mitwisser zu bekommen, die Weißrussland zu einer anderen Namensdeutung verhelfen.

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